Urs
, 51

Buschauffeur, Diemtigen (BE)

Obwohl ich Musik über alles liebe, konnte ich nie tanzen. An Partys war ich immer der, der allein in der Ecke herumstand. Es war für mich unmöglich, mich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen. Das belastete mich so sehr, dass ich bereits überlegte, wegen meinen Hemmungen eine Psychotherapie zu beginnen.

Vor vier Jahren bin ich zufälligerweise auf einen Artikel über Claude Weill gestossen. Es ging um sein Buch, in dem ältere Menschen portraitiert werden, die Substanzen konsumieren. Ich konnte kaum glauben, was ich da las! Eine Grossmutter, die LSD nimmt. Ein Senior, der MDMA konsumiert. Das konnte doch gar nicht sein! Ich bestellte das Buch und las ungläubig die Portraits dieser Menschen. Ich war fasziniert. Das waren keine Süchtigen, sondern Leute, die mitten im Leben standen und bewusst konsumierten.

Konnte es wirklich sein, dass ich mich 30 Jahre lang völlig getäuscht hatte? Wenn du auf dem Land aufwächst und in einem Verein bist, wirst du regelrecht zum Biertrinken erzogen. In der Rekrutenschule wirst du zum Kiffen animiert. Aber so genannte «harte Drogen» – das geht nicht. Ich glaubte lange, dass illegale Drogen sehr gefährlich sind. Wie die meisten bin ich mit einem sehr negativen Drogenbild zur Zeit vom Platzspitz aufgewachsen.

Nun aber hatte ich plötzlich die Idee, dass mir vielleicht Substanzen dabei helfen könnten, mich von meinen Hemmungen zu befreien. Im Internet fand ich die Seite Eve & Rave. Dort hinterliess ich eine Nachricht im Forum und fragte, ob mich jemand bei einer ersten Erfahrung begleiten würde. Tatsächlich meldete sich jemand auf mein Inserat: Julia. Wir trafen uns zu einem Spaziergang. Plötzlich überkamen mich Zweifel. Würde eine wirre Person aufkreuzen? Aber Julia arbeitete als Journalistin bei einer grossen Tageszeitung und war eine ganz normale, bodenständige Frau.

Eva, meine Partnerin, hatte natürlich meine Idee mitbekommen. Sie beobachtete das Ganze interessiert, aber mit Distanz. Als ich begeistert vom Treffen mit Julia nach Hause kam, erzählte ich ihr von unserem Plan: Ich würde ein Häuschen mieten und Julia würde MDMA mitbringen. Eva wollte nichts konsumieren, aber sie war einverstanden, ebenfalls mitzukommen. Julias Mann war auch dabei.

So konsumierte ich mit 48 zum ersten Mal MDMA. Ich hatte eine Hütte im Gantrischgebiet gemietet und war, ehrlich gesagt, vor dem Wochenende doch ziemlich nervös. Ich fürchtete, dass es ausarten würde und wir sicher alle Sex haben würden. Ich hatte halt diese Bilder im Kopf von den nackten Hippies aus den Siebzigerjahren.

Es war natürlich überhaupt nicht so. Es war einfach nur überwältigend und zutiefst befreiend. Und ich habe getanzt! Stundenlang! Zum ersten Mal in meinem Leben. Es war unglaublich. Die Musik trug mich weg, ich konnte gar nicht anders, als mich zu bewegen. Eva hatte spontan doch auch mitgemacht. Wir hatten 130 Milligramm genommen, nach drei Stunden nahm ich nochmals 100. Sechs Stunden lang habe ich getanzt. Es war so leicht und ich war einfach nur glücklich.

Danach war ich wochenlang euphorisiert. Und ich erzählte davon! Meinen Freunden! Meiner Schwester! Jedem schwärmte ich von meinem Erlebnis vor. Meiner Schwester schenkte ich zum 50. Geburtstag einen Trip. Wir stehen uns sehr nahe und sie ist ein offener Mensch. Als ich ihr sagte, dass sie das nicht verpassen dürfe, glaubte sie mir und machte mit.

Aus diesem Erlebnis ergab sich eine kleine Gruppe aus fünf Leuten, die sich nun regelmässig bei uns zu Hause trifft. Wir nehmen MDMA und tanzen zu elektronischer Musik. Früher hätte ich ja nie freiwillig elektronische Musik gehört. Ich hielt sie für dumm, kommerziell und repetitiv. Jetzt liebe ich sie. Wenn einer dieser Tanzabende stattfindet, wissen unsere Söhne: Sie dürfen gerne zuhause sein, aber sie müssen damit rechnen, dass wir zu ihnen kommen, sie umarmen und ihnen ganz oft sagen, wie gern wir sie haben.

Wir hatten von Anfang an beschlossen, ihnen gegenüber offen zu sein. Sie sind 18 und 20 Jahre alt, beide Handwerker. Wir haben ein gutes Verhältnis. Mir ist es lieber, dass wir miteinander über unseren Konsum sprechen. Ich über meinen und sie über ihren. Es wäre naiv zu glauben, dass sie nichts ausprobieren. Beide kiffen manchmal, der Ältere hat einmal Amphetamin probiert, der Jüngere Ritalin. Für Psychedelika interessieren sie sich nicht wirklich. Aber weil sie an unseren Tanzabenden dabei waren, wissen sie, wie es ist. Sie sehen, wie wir uns verhalten, wie es uns geht – auch am Tag danach.

Mir ist es wichtig, das seltsame Drogenbild, mit dem ich aufgewachsen bin, nicht weiterzugeben. Lieber möchte ich ihnen mitgeben, dass sie es in einem sicheren Umfeld ausprobieren sollten, mit Menschen, denen sie vertrauen – falls sie das jemals wollen.

Ich selber bin froh, dass ich Substanzen erst jetzt entdeckt habe. Ich bin in einem gewaltsamen Elternhaus aufgewachsen und musste zuerst einiges verarbeiten. Ich glaube, früher wäre ich nicht bereit dafür gewesen.

Inzwischen habe ich auch LSD ausprobiert. Meine Trips haben mich nachhaltig verändert. Ein Alkoholrausch kann so etwas nicht. Ein Abend mit Alkohol kann sich im Moment gut anfühlen, aber es bleibt nichts zurück. Psychedelika haben eine nachhaltige Wirkung. Ich bin mehr bei mir, stehe zu mir, lasse Emotionen zu und bin ausgeglichener.

Das hat mich einigen Freunden nähergebracht, von anderen hat es mich distanziert. Nicht alle Männer können damit umgehen, wenn man als Mann Gefühle zeigt. Es gibt diesen männlichen Kodex, dass man Sprüche klopft, Witze macht, immer an der Oberfläche bleibt. Wenn man mit diesem Kodex bricht, sind manche dankbar – und andere ertragen es nicht.

Meinen Job als Busfahrer würde ich wohl verlieren, wenn es herauskommen würde. Meinen Kindern habe ich gesagt, dass sie es für sich behalten sollen, weil ich bei uns im Dorf nicht abgestempelt werden will. Das ist schade, denn eigentlich ermöglichen Substanzen so viel Nähe. Ich kenne viele Leute, denen würde ein Trip so gut tun. Ich wünsche mir für sie, dass sie ihre Vorbehalte überwinden und einmal eine Gelegenheit dazu finden.

Meine Schwester und mich haben unsere gemeinsamen Erlebnisse noch nähergebracht. Auch für die Beziehung zu meiner Frau sind sie sehr positiv. Ich geniesse die zärtliche Nähe, die uns am Tag nach einem MDMA-Trip verbindet. Und wir sind beide glücklich, dass wir endlich zusammen tanzen können.

Text: Elle
Bild: KI-generiert von Levin

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Eine Veranstaltungsreihe von substanzielles.ch, der Photobastei und der Gesellschaft zur Erweiterung des Bewusstseins. Jeden letzten Mittwoch im Monat in Zürich.