Genesungsbegleiter, Frauenfeld (TG)
Meinen ersten Entzug machte ich zu Hause. Einfach so. Ich dachte schon damals: Das ist gar nicht so einfach. Jeder weitere Entzug wurde schwieriger. So ist das bei Heroin.
Heute bin ich acht Jahre clean. Ich kiffe noch, trinke Alkohol und rauche.
Schlimmer als die Sucht ist die Stigmatisierung, denn die ist wie eine zweite Krankheit. Das Wort «Junkie» bedeutet ja «Dreck». Das finde ich sehr entwürdigend. Ich dachte immer, dass ich eine Krankheit bin, und nicht, dass ich eine habe.
Meine Eltern haben mein Urvertrauen kaputt gemacht. Als ich mit vier Jahren zum Beispiel meine Nase operieren musste, sagten meine Eltern: «Wir gehen in die Migros.» Ich merkte schnell, dass das gelogen war. Im Spital rannte ich um den Tisch und sie hielten mich dann für die Narkose mit Gewalt fest.
Meine Eltern haben das selbst nie anders gelernt. Sie sind keine bösen Menschen. Aber wenn sie mich zur Bestrafung an die Heizung gebunden haben, hat mich das halt traumatisiert. Einmal musste meine Mutter ins Spital und mein Bruder sagte, sie komme nie mehr zurück. Danach begann ich zu stottern.
Ich bin Secondo. Als Kind fühlte ich mich in Italien als Schweizer und in der Schweiz als Italiener. Ich fühlte mich nirgendwo zugehörig. Die Substanzen haben mich magisch angezogen. In der ersten Klasse der Sekundarschule hat es mit Zigaretten angefangen. In der zweiten Klasse kamen die Ersten mit Joints. Ich fand die Erfahrung überhaupt nicht so schlimm, wie man mir das erzählt hatte.
Als der Erste mit einer Folie Heroin kam, dachte ich, das sei so ein bisschen wie Haschisch. Damit wurde ich ganz ruhig, alle Unsicherheiten waren plötzlich weg.
Das Kiffen wurde zügig alltäglich. Bald haben wir das Sackgeld zusammengelegt und mit dem Auto in Zürich am Letten Heroin geholt. Das war 1994, kurz bevor dieser geschlossen wurde. Es war teuer. Um an Geld zu kommen, bin ich darum mit 15 bei Autoeinbrüchen Schmiere gestanden.
Irgendwann fiel in der Schule auf, dass wir am Morgen verpeilt waren. Eines Morgens verhaftete die Polizei vier Schüler. Ich schwatzte mich heraus. Von der Schule bin ich später trotzdem geflogen. Dann habe ich an Technopartys Ecstasy und LSD entdeckt. Ich hatte schliesslich schon Heroin genommen, warum sollte ich also davor nun Angst haben? Ein halbes Jahr lang habe ich alles querbeet genommen.
Dann begann ich eine Lehre als Konserven- und Tiefkühltechnologe. Ich musste am Fliessband mit Büchsenravioli arbeiten. Da arbeiteten Leute, die nach 40 Jahren völlig abgestumpft waren. Ich konnte das einfach nicht aushalten. Die Lösung war wieder Heroin. Das löste meine Ängste.
Einmal habe ich mit einem Albaner an einer Vermicelli-Wurst-Maschine gearbeitet. Der sagte zu mir: «Kommst du vorbei nach der Arbeit, ich habe etwas.» Man sah mir den Konsum an. Zu ihm bin ich nie gegangen. Aber ich bin dann erwischt worden, wie ich auf der Berufsschule mit den Bierbrauern gekifft habe. Man hat mich aus der Lehre geworfen.
Ich hatte damals als Jugendlicher Depressionen, Ängste und Traumata. Mit meinem Konsum wollte ich mich heilen. Heute weiss ich: Ich hatte ADHS und machte darum schon früh einfach das, was mich interessierte, statt das, was ich sollte. Bis 13 oder 14 konnte ich keine Schuhbändel binden. Ich hatte immer Schuhe mit Klettverschlüssen. Ich dachte damals, ich sei blöd! Ich dachte, dass ich nie eine Freundin kriegen würde.
Mit Heroin erschien mir das Leben viel einfacher. Ich fühlte mich innerlich schön und so verbunden wie im Bauch der Mutter. Aber wenn du dauernd drauf bist, bemerkst du den eigenen Zerfall nicht. Du kommst automatisch in Kreise, die einfach scheisse sind. Für den Konsum hatte ich immer zu wenig Geld. Ich sage immer: Hätte ich damals jemanden gefunden, der meine Eltern gekauft hätte, hätte ich sie verkauft.
Nach dem Rausschmiss aus der Lehre begann eine Therapien-Odyssee. Sie dauerte vier Jahre. Meine erste Station war eine Klinik in der Ostschweiz. Da war ich 24/7 eingesperrt. Bei der Ankunft musste ich erst duschen, dann gab es eine Leibesvisitation. Es war Dezember und es war kalt, das weiss ich noch. Alles haben sie durchsucht. Dabei kam ich ja direkt von zu Hause, von meinen Eltern! Ich dachte: Ist das ein Gefängnis oder ein Entzug?
«Nutzen Sie Ihre Zeit», sagte einer der Ärzte zu mir, und: «Der Weg ist das Ziel.» Das weiss ich noch genau. Heute begreife ich, was er gemeint hat.
Irgendwann hat mich die Polizei geholt – wegen der Autoeinbrüche. Ich kam für neun Tage in U-Haft und wurde wegen Hehlerei und mittelschwerem Dealen angeklagt. Eigentlich war ich froh, reinen Tisch machen zu können. Aber die Zelle war erniedrigend. Ich durfte nur drei Zigaretten am Tag rauchen. Als ich einmal auf dem Bett geraucht habe, hat mich der Wärter angeschnauzt: Sitz an den Tisch!
Das war nicht cool. Das hat mich traumatisiert. Ich durfte auch nicht reden, obwohl ich so gerne rede. Das war Folter, Mann! Sie gaben mir das Gefühl: Du bist ein Junkie und du bist nichts wert. Das wurde mir immer wieder bestätigt.
Nach der U-Haft entschied ich mich für eine Langzeittherapie in einer geschlossenen Anstalt. Aber ich hatte Angst, über meine Ängste zu reden. Ich dachte, wenn ich ehrlich und offen bin, dann sperren die mich in ein Zimmer und werfen den Schlüssel weg.
Dort begann ich zu spritzen statt nur Folie zu rauchen. In diesen Anstalten tauscht man sich ja aus. Das ist wie Berufskunde. Man gibt einander Tipps: Wenn du es so oder so machst, fährt es mehr ein. So verbrauchst du weniger Stoff. Irgendjemand schmuggelte 5000 Franken in die Anstalt. Die haben wir verbraucht.
Im Kanton Solothurn machte ich eine Therapie mit Erlebnispädagogik. Wir bekamen je ein Pferd, für das wir sorgen mussten. Die Idee war, unsere Eigenverantwortung zu fördern, aber ich hatte das Heroin lieber als Eigenverantwortung. Das Reissen war stärker.
Dann kam die Gerichtsverhandlung. Zuerst schickten sie mich zurück in die Klinik, in die stationäre Therapie. Dann kam ich ins Gefängnis.
Sucht ist immer ein Symptom für andere Probleme. Man sucht ja etwas. Den inneren Frieden? Ich fragte mich damals: Bin ich schwul? Oder nicht? Oder bi? Damals bin ich auch auf den Strich. Mein Bruder und meine Eltern wissen das bis heute nicht. Meine heutige Frau war die erste, die sagte: «Ja, und?»
Ich hatte damals Angst, mich zu zeigen. Ich dachte: Wenn ich ehrlich bin, kriege ich nur noch mehr Diagnosen. Ich war sicher, dass die mich wieder einsperren würden. In solchen Strukturen verlernt man zu leben. Ich war damals 21 Jahre alt.
Im Wald zog ich mir drei Spritzen auf. Wenn du Heroin kennst, dann weisst du, dass es so eine braune Farbe hat. Die drei Spritzen waren schwarz. Ich bin umgekippt. Nach dem Aufwachen war mein erster Gedanke: Nicht mal das kannst du! Ich habe mich geschämt.
Aber ich war trotzdem froh, dass ich noch lebte. Alle meine Sachen hatte ich verloren. In der Dunkelheit bin ich barfuss zurück in die Stadt gegangen und hatte danach riesige Blasen an den Füssen.
Da verstand ich: Ich habe ein massives Problem und ich kann es alleine nicht lösen. Ich wollte ins Methadonprogramm. Am nächsten Tag ging ich zu der Ärztin, die mich bis heute behandelt. Sie sagte: «Ja, logisch!» Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich verstanden.
Ich begann mit dem Methadonprogramm und mit einer Psychotherapie im externen Psychiatrischen Dienst. Ich stabilisierte mich, kaufte einen Computer und entdeckte das Internet. Ich machte Tabellenkalkulation und war in den frühen Chatrooms. Das war cool. Das war mein Hobby. Ich entdeckte, dass ich gerne lese, auch wenn ich nicht gerne schreibe.
Einmal noch versuchte ich für 1000 Franken Kokain zu kaufen. Die Dealerin gab mir nur Traubenzucker. Aber das Reissen war trotzdem weg! Da habe ich realisiert, dass ich es aushalten kann.
Nach einigen Jahren zog ich in eine eigene Wohnung und kam mit meiner heutigen Frau zusammen. Ich wollte für sie und ihre Kinder Verantwortung übernehmen. Zusammen haben wir noch zwei weitere Kinder bekommen. Das geht nur, wenn du Verantwortung für dich selbst übernehmen kannst.
Lange fühlte ich mich wie in einem Glashaus. Alles war trüb und grau. Ich wollte diese Scheibe zwischen mir und dem Rest der Welt nicht mehr. Immer, wenn es gegen die dunkle Jahreszeit geht, habe ich u huere Müeh. Heute mache ich Lichttherapie und nehme Vitamin D. Zudem fand ich heraus, dass ich Schlafapnoe habe.
Inzwischen weiss ich, dass auch ich es verdient habe, Glück zu finden! Ich wäre nicht mehr hier, wenn ich all diese Dinge nicht angeschaut und die Rückfälle intensiv bearbeitet hätte. Es gibt Gründe, warum Menschen abstürzen. Das habe ich bei meinen gefühlt fünfzehntausend Entzügen gelernt: Das sind sensible, kreative Menschen, die glauben, dass sie selbst die Krankheit sind.
Mit meiner IV-Rente darf ich heute 30% arbeiten. Seit 20 Jahren bin ich bei einer Gärtnerei. Die Natur hat ihren eigenen Rhythmus. Das erdet mich. Daneben mache ich eine Ausbildung zum Genesungsbegleiter. Für Menschen, die so etwas erleben wie ich, sind Bezugspersonen wichtig, die wissen, wie sich das anfühlt. So individuell wie du abgestürzt bist, so individuell kommst du wieder heraus. Du musst deinen eigenen Weg finden.
Nach Dreifuss und der Vier-Säulen-Politik ist nichts mehr passiert. Es ist tragisch. Man ist stehen geblieben. Egal, um welche Substanz es geht: Sie sollte ohne Stigma legal sein. Die Apotheken könnten sie verkaufen und die Mitarbeiter müssten geschult sein. Dann könnte man in einem Räumchen in der Apotheke sicher konsumieren.
Und wir müssen mit dem bullshit in der Schule aufhören! Wir brauchen Fakten! Wenn du konsumierst, dann setz dich damit auseinander! Zwischen Sucht und Genuss verläuft eine feine Linie. Das sage ich auch meinen Kindern. Da bin ich sehr offen. Ich würde auch in jede Scheiss-Stadt ein Drogentestlabor für die Öffentlichkeit stellen.
Wenn ich heute das Reissen habe, mache ich einfach fünf Minuten etwas anderes. Ich rede mit meiner Frau oder meinen Kindern, und siehe da: Das Reissen geht weg.
Mein letzter Entzug war mein schwerster. Ein halbes Jahr konnte ich kaum schlafen. Der Methadon-Entzug nach zwölf Jahren war viel heftiger als beim Heroin. Der entscheidende Satz kam von meiner Frau. Ich wusste nicht, ob ich weitermachen sollte. Sie sagte: «Ich liebe dich so oder so, es ist deine Entscheidung.» Das hat mir Kraft gegeben und ich bin vom metaphorischen 10-Meter-Sprungbrett gesprungen.
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